Chaostage
Als Chaostage werden bestimmte Treffen von Punks in verschiedenen Städten bezeichnet, an denen zum Teil auch Autonome und andere linke und linksradikale Gruppen sowie Hooligans, Skinheads, und allgemein interessierte Jugendliche und Erwachsene teilgenommen haben. Die ersten Chaostage fanden 1983 in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover statt, die sich ursprünglich gegen eine geplante Punker-Datei der Polizei richteten. Bei den seitdem mehr oder weniger regelmäßig stattfinden Chaostagen kam es dabei – besonders bei den Chaostagen 1995 – immer wieder zu heftigen Ausschreitungen und Straßenschlachten mit der Polizei.
Mittlerweile wird der Begriff Chaostage vereinzelt auch in anderen Bezügen verwendet. Zum Beispiel „Chaostage bei der SPD“ im Jahr 2008 [1] oder in Hessen im Frühjahr 2008 [2]. Die Verwendung des Wortes wird auf [3] und [4] dokumentiert.
Geschichte
1980er Jahre
Ein Vorläufer der Hannoverschen Chaostage fand 1982 an mehreren Samstagen in Wuppertal statt, nachdem die dortige Stadtverwaltung versucht hatte, den dort lebenden Punks zu verbieten, sich in Gruppen um einen zentralen Brunnen in der Innenstadt zu versammeln. Dieser Versuch bewirkte jedoch, dass sich fortan nicht nur Wuppertaler, sondern auch Punks aus anderen Orten in Wuppertal trafen. Diese Treffen wurden „Wuppertaler Punk-Treffs“ genannt. 1983 kam es dann zu Straßenschlachten zwischen Punks und der Polizei und ein Jahr später gab es Krawalle zwischen Punks und rechtsradikalen Skinheads mit mehreren Verletzten.
Die ersten ‚offiziellen Chaostage‘ fanden 1983 in Hannover statt. Anlass war das Bekanntwerden einer geplanten „Punker-Kartei“, in der alle jungen Menschen mit auffälligem Aussehen registriert wurden, auch wenn sie in keine Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten verwickelt waren. Die Idee eines großen Punk- und Skin-Treffens war die, möglichst viele „karteiwürdige“ Menschen nach Hannover zu holen, um so diese Kartei ad absurdum zu führen.
Als ‚erster Chaostag‘ in Hannover kann allerdings bereits der 18. Dezember 1982 gelten. Ein seltenes Tondokument Vorlage:Audio belegt, dass Jello Biafra während des legendären Auftritts der Dead Kennedys zwei Tage zuvor am 16. Dezember 1982 im Kursaal in Bad Honnef ausdrücklich zu „Chaostagen“ aufrief und sich dabei ebenfalls auf die geplante Punkerkartei bezog.
Auch 1984 und 1985 trafen sich dann jeweils am ersten Augustwochenende wieder Punks und andere linke Gruppen in Hannover. Für 1989 waren „Internationale Chaostage“ geplant. Zu diesem Treffen kamen jedoch weniger Punks als erwartet.
Seit Mitte der 1980er nennen sich zahlreiche größere und kleinere Treffen von Punks auch außerhalb Hannovers Chaostage, haben aber außer dem Namen oft nicht viel mit diesen gemein. 1987 versammelten sich im Ostwestfälischen Lübbecke am zweiten Augustwochenende ca. 1.000 Punks aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien und England zu einem friedlichen und ruhigen Bierbrunnenfest. Erst zwei Jahre später wurde in der Brauerei das „Hausrecht“ ausgesprochen und der Bierausschank selektiert.
1990er Jahre
Nachdem es in den Jahren ab 1985 weitgehend ruhig geworden war, kam es 1994 und im August 1995 überraschend zu erneuten Chaostagen in Hannover. Die Chaostage der Neunziger zeichneten sich durch teilweise heftige Auseinandersetzungen der Punks und einheimischer Jugendlicher mit der Polizei aus.
Bei den Chaostagen vom 4. bis 6. August 1995 in der Nordstadt von Hannover kam es zu Straßenschlachten mit bis zu 3.000 Polizisten und Bundesgrenzschutzbeamten, dabei wurden 179 Polizisten und Chaostage-Besucher verletzt. Gegen 220 Chaostage-Besucher wurde später Anklage wegen verschiedener Delikte erhoben. Vor allem die Plünderung eines Penny-Supermarktes in der Nordstadt sorgte für Chaos im Straßenverkehr und Aufruhr bei der Bevölkerung und den Medien, die von bürgerkriegsähnlichen Zuständen sprachen. Am 5. August verlagerte sich das Geschehen in den Stadtteil Hannover-Linden, wo zeitgleich das Fährmannsfest Hannover, ein alternatives Open-Air-Festival, stattfand. Vielen Punks wurde zuvor in der Innenstadt von der Polizei gesagt, dort fände ein Punktreffen statt. Nachdem am frühen Abend ein Bierstand mit den Worten „Freibier für alle!“ überfallen wurde, wurde das Fährmannsfest von der Polizei gestürmt.
Da nach Ansicht von Punks die bürgerkriegsähnlichen Zustände zumeist schon im Vorfeld durch die Presse herbeigeredet wurden, kam das Motto auf: „Die Presse befiehlt, wir folgen.“ Die Polizei setzte bei den Chaostagen nach eigenen Angaben auf eine Deeskalationsstrategie, die aber das Gegenteil bewirkte, so dass sich der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder und sein Innenminister Gerhard Glogowski bundesweit Kritik für ihre Strategie gefallen lassen mussten.
Im Jahr 1996 kam es am ersten Augustwochenende zu einer bisher nicht dagewesenen Polizeipräsenz von über 10.000 Beamten in der gesamten Stadt Hannover, die jeden Versuch, Chaostage zu veranstalten, im Keim ersticken sollte, was gegenüber einer Anzahl von Punks, die nur im oberen dreistelligen Bereich lag, auch gelang. Da an diesem Wochenende in vielen Stadtteilen buchstäblich an jeder Ecke Polizei stand, wurde von Kritikern auch ironisch von „Ordnungstagen“ gesprochen. Vgl. Martin Stucke, Grundrechte-Report 1997, "Chaostage" 1996 in Bremen: Polizeigewahrsam für "punktypisches Aussehen"Vgl. Rolf Gössner, Grundrechte-Report 1997, Soziale "Säuberung" per Platzverweis Vgl. Thomas Kleine-Brockhoff, DIE ZEIT, 1996, "Chaostage 96: Hannover als Stadt der eingeschränkten Grundrechte" Trotz der Polizeipräsenz wurde nicht verhindert, dass rechtsradikale Schlägertrupps in die Innenstadt gelangten und (z.B. im Bereich Opernplatz) mit Holzlatten bewaffnet auf Punks losgingen.
Ab 2000
Für das EXPO-Jahr 2000 waren erneut Chaostage in Hannover angekündigt, die jedoch nicht die Ausmaße von 1995 erreichten. Vgl. Heise-Ticker zu Chaos-Tage 2000 Initiator Karl Nagel hatte eine umfangreiche parodistische Website erstellt, die vollkommen überzogene Erwartungen weckte.
Vom 3. bis zum 5. August 2001 wurden Chaostage in Cottbus und Dortmund angekündigt. In Cottbus versammelten sich relativ wenige Jugendliche; nach Berichten wurden 58 Personen in Cottbus kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen. In Dortmund trafen sich etwa 700 Punks, von denen mehr als 500, nach kleineren Zwischenfällen, in Gewahrsam genommen wurden.
Im Jahr 2002 sollten Chaostage vom 2. bis zum 4. August in München stattfinden. Sie waren nach Medienberichten als Protest gegen den Kanzlerkandidaten der CDU/CSU, Edmund Stoiber, geplant. Die Münchner Polizei reagierte auf die Ankündigung mit einer „Null-Toleranz-Strategie“. Allerdings reisten ohnehin kaum Punks an, so dass die Chaostage praktisch ausfielen. Eine Sonderverfügung untersagte alle „Handlungen, die mit Chaostagen zu tun haben“. In der Boulevard-Presse wurde dieses Vorgehen sehr gelobt (BILD: „Punker prallen an Festung München ab“).
Vom 5. bis 7. August 2005 fanden wieder Chaostage in Hannover statt. Ca. 300 bis 500 Punks trafen sich in der Stadt. Die Polizei nahm bereits am Freitag, dem 5. August knapp 90 Punks in Gewahrsam. Bei einer Wahlveranstaltung der Anarchistischen Pogo Partei Deutschlands am 6. August am Kröpcke setzte die Polizei ein striktes Alkohol- und Hundeverbot durch. Nach ersten Ausschreitungen in der Innenstadt sowie an der Universität Hannover löste die Polizei die Veranstaltung auf, kesselte einen Großteil der anwesenden Punks vor dem Hauptbahnhof über ca. 3 Stunden ein und nahm sie für bis zu 8 Stunden in Gewahrsam.
Vom 4. bis 6. August 2006 trafen sich ca. 300 bis 450 Punks, Skins und Freunde, viele in neutraler Kleidung, in Hannover. Etwa 1000 Polizisten waren im Einsatz und erteilten allen größeren Gruppen einen Platzverweis für die Innenstadt.
Am 9. Juni 2007 trafen sich ca. 200 Punks, Skins und Autonome sowie Karl Nagel in Wuppertal-Elberfeld, um das 25jährige Jubiläum der Chaostage zu feiern. Etwa 300 Polizisten nahmen letztlich 47 Punks fest, sprachen gegen 42 Randalierer Aufenthaltsverbote aus und erteilten 150 Platzverweise. Ein Beamter und mehrere Punks wurden verletzt.
Filme
1996 kam der Film Kampf der Welten – Chaostage Hannover 1995 in Umlauf, der in der Punkszene schnell Kultstatus errang. Er besteht aus diversen Zusammenschnitten von Nachrichtensendungen und Spielfilmen.
Im Jahr 2007 wurde der Episodenfilm Chaostage von Regisseur Tarek Ehlail gedreht. Echte Punks, die auch an den echten Chaostagen beteiligt waren, wirken mit. Die Geschichte an sich bezieht sich jedoch nicht auf die realen Ereignisse, sondern versucht mit einer absurden Verknüpfung von Zufällen die Entstehung des Phänomens auf ironische und satirische Weise zu „erklären“. Vgl. „Chaos in Saarbrücken“, in: die tageszeitung, 16. August 2007. Der Film feierte am 3. Oktober 2008 in Hannover Premiere. Bei einem Punkkonzert am Tag der Premiere kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Punks und der Polizei in der Nordstadt. Vgl. „Kalkulierte Randale als Punkfilmpromotion“, in: ARD - Polylux / polylog.tv, 5. Oktober 2008.
Kritik
Von konservativ-bürgerlicher Seite wurden besonders die früheren Chaostage als reine „Randale“ wahrgenommen. Politische Ziele seien nicht erkennbar, es handele sich weniger um politische Demonstrationen, sondern vielmehr um Rituale der Gewalt, vergleichbar mit dem 1. Mai in Berlin-Kreuzberg.
Aber auch von alternativer und linker Seite wurden die Veranstaltungen wegen Inhaltsleere und Bürgerschreck-Mentalität kritisiert: Die Treffen lieferten – so die Kritiker – einer Law-and-Order-Politik Argumente und dienten erlebnisorientierten Jugendlichen als Abenteuerspielplatz.
Aus Pogo-anarchistischer Sicht bestand die Zielsetzung der Chaostage früher hauptsächlich darin, provokativ gegen Repression und Entrechtung von Punks vorzugehen. Seit den 1990er Jahren ist vor allem das Bestreben erkennbar, den Mythos Chaostage am Leben zu erhalten und den sensationslüsternen Medien, Politikern und Bürgern künstlich übersteigerte Krawallgefahren anzubieten, die diese dankbar annahmen, und so ein Stück unterhaltsame Realsatire zu schaffen.
Wissenschaftliche Untersuchung der Chaostage 95
Da hat sich tatsächlich jemand die Mühe gemacht, die Chaostage wissenschaftlich zu untersuchen. Wenn ihr also Einschlafschwierigkeiten habt oder sonst nicht wisst, was ihr tun solltet, dann zieht Euch den Bericht rein. Nur zum Download gedacht, da er zu groß für eine Internetseite war. Hier kriegt ihr den Bericht als PDF, als RTF oder als DOC. Viel Spaß...
Herbertz, Oliver (2011): Die Organisation von Chaostagen. Analyse zur Konstruktion von Objektivität. in: Betz, Gregor/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.): Urbane Events. Wiesbaden: VS, S. 245-260.
(Vortrag zum Thema)
Weblinks
- Chaos-Tage Online-Museum
- Verfilmung das Chaostage-Romans von Moses A.
- „Ordnung ist böse“ ein Artikel des Mit-initiators Karl Nagel
- Klaus Frick, Ein Reigentanz zum Knüppeltakt, taz 28. April 2001
- Prof. Heiko Geiling (Institut für Politische Wissenschaften, Universität Hannover), Punk als politische Provokation: Mit den Chaos-Tagen in Hannover zur Politik des 'gesunden Volksempfindens'
- Vortrag zum Thema Über die Organisation von Chaos(-Tagen)