Wolfgang+Petry:+"Ruhrgebiet" 1/1
Das Ruhrgebiet. Jenseits von Afrika, der Farbe lila und dem Piano, dafür mit Pommesbuden, Murmeltiertagen und Toto und Harry. Wie alle Großen meiner Zunft sehe auch ich meine Heimat nicht als Chance, sondern als Schicksal. Die Menschen an Rhein und Ruhr sind erfolgsverwöhnte Kosmopoliten, begreifen Arbeit als Kraft mal Weg und engagieren sich für den Schutz der heimischen Kohlmeise. Sie haben den höchsten IQ, das höchste Bruttoinlandsprodukt und einen außerordentlich guten Geschmack in Sachen Kik-Streetwear. Obwohl sie überall auf der Welt beliebt sind und keine natürlichen Feinde haben, registrieren sie sehr wohl, daß sich zwischen den bewundernden Blicken aus Berlin und Hamburg gelegentlich auch neidvolle verbale Spitzen aus München und Düsseldorf hinzugesellen, was ich verstehen kann, denn seit dem 1.1.2010 sind wir auch noch Papst! Ich denke, daß mich das Jahr 2010 weit nach vorne bringen wird, denn während du immer noch Deutschland bist, bin ich längst Kulturhauptstadt. Ich habe das große Glück, mit rußgeschwärzter Wäsche zwischen Fördertürmen und Kohlehalden zu leben, denn das Ruhrgebiet ist eine Region, in der man keinen Wert auf Klischees legt und seine Brieftauben noch ohne Vorurteile fliegen läßt. Taubenzüchterehen sind schöne Ehen. Bei einer Flasche Pils und einer guten Currywurst wird abends über Fußball geredet und tagsüber malocht. Natürlich wird auch Musik gemacht, traditionell die hochmoderne, visionäre Kost. Auf jeden Mann kommen 2,3 Schifferklaviere, 1,7 Mandolinen und 8,9 Mundharmonikas, was zu zeitlichen Problemen führen kann, denn statistisch singt jeder Einwohner bereits in 4,3 Shanty-Chören. Das einzige gesungene Lied im Ruhrgebiet ist "Glückauf Glückauf, der Steiger kommt". Andere schöne Lieder wie "Komm mal lecker unten bei mich bei" oder "Finger im Po, Mexiko" sind pure Einbildung. Jeder hier arbeitet als Bergmann, und wer einen anderen Beruf hat, der lügt. Am Wochenende tanzt der Bergmann Disco-Fox im Gazprom-Hemd. Früher tanzte er Samba im Schalke-Trikot, dann brachte der Strukturwandel Michael Wendler, Mickie Krause und Kevin Kuranyi. Der Kohlenkumpel ist das einzige Lebewesen, das gleichzeitig Disco-Fox tanzen und dabei eine Currywurst essen kann, während die anderen Lebewesen oft aussehen wie zehn nackte Frisösen. Schön wohnen kann man hier. Alles in der Nähe, keine großen Wege. Jedes Haus von Duisburg bis Dortmund wird linker- und rechterhand immer von Stahlwerken gesäumt, am Straßenende steht stets ein Kühlturm, im Rücken befindet sich die Kläranlage, durch den Garten rattert der Güterverkehr, obendrüber die Autobahn, und nur 80 Meter unter dem Idyll gräbt der Bergmann im Schweiße seines Angesichts auf Sohle 7 einen Stollen. Schön wohnen kann man hier, allerdings gibt es im Ruhrgebiet keinen einzigen Baum. Die Luft ist rußig, so rußig, daß die Nylonstrümpfe davon kaputtgehen. Im Sommer müssen daher alle Bewohner zum Entgiften an die Nordsee fahren. Man kann sie in El Arenal husten hören. Wenn fremde Menschen dieses Husten hören oder mit mystischen Worten wie "Bottrop", "Gelsenkirchen" oder "Oberhausen" konfrontiert werden, erzeugen sie oft Würgegeräusche, anstatt den roten Teppich auszurollen. Wie mag sich nur der Bergmann dabei fühlen, das Brauereipferd, oder der Typ, der in der Straßenbeleuchtung immer das Petroleum nachfüllt? Ich glaube, durch den Nacktscanner betrachtet ist das Ruhrgebiet eine Region, von der die meisten echt keine Ahnung haben..
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